Bedürfnisorientierung ist als Schlagwort aus dem frühkindlichen Bildungsbereich von Kitas oder Krippen nicht mehr wegzudenken. Dahinter liegt unter anderem die Grundannahme, dass der Antrieb allen menschlichen Tuns unsere Bedürfnisse sind, die wir uns durch unser Handeln versuchen zu erfüllen. Bedürfnisse sind dabei etwas Universelles und Positives. Alle Menschen auf der Welt haben z.B. ein Bedürfnis nach Ruhe, Lernen, Selbstwirksamkeit, Zugehörigkeit oder auch Leichtigkeit und wählen dafür unterschiedlichste Strategien. Bedürfnisse sind unsere „guten“ Gründe hinter unserem Verhalten, mit denen sich jede:r verbinden kann. Als Strategien haben wir unzählige Möglichkeiten, die mitunter zu Konflikten führen können. Hinter dem Zerstören eines Bauklötzchenturms steht möglicherweise das Bedürfnis eines Kinders nach Zugehörigkeit, das in dem Moment (noch) keine andere Strategie zur Verfügung hat als diese.
Möglicherweise regt sich bei Ihnen beim Lesen nun der erste Widerstand, weil Sie vielleicht an das Verhalten eines bestimmten Kindes oder einer erwachsenen Person denken und sich fragen: „Soll ich dieses respektlose oder übergriffige oder verletzende Verhalten etwa gutheißen? Sind Bedürfnisse eine Entschuldigung dafür?“ Schon sind wir mitten in der mitunter hitzigen Diskussion über Bedürfnisorientierung, bei der es um einen grundsätzlichen Blick auf Menschen geht. Verhalten, Bedürfnisse und die unantastbare Würde einer Person werden klar voneinander getrennt. Dabei gilt immer auch das Motto: „Verstehen heißt nicht einverstanden sein.“ Im eben geschilderten Beispiel habe ich damit die Chance, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit anzuerkennen, die gewählte Strategie klar einzuordnen und gemeinsam mit dem Kind nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung oder einer anderen Strategie zu schauen. Dies wiederum ermöglicht einen Lernprozess, der weder beschämt noch die Beziehung zwischen der Fachkraft und den Kindern beschädigt.
Vielleicht hören Sie beim Lesen zu bedürfnisorientierter Kinderbetreuung auch den unausgesprochenen Appell, fortan als pädagogische Fachkraft beständig die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Sie denken resignierend an Fachkräftemangel oder Betreuungsschlüssel und fragen sich, was Sie noch alles tun sollen. Doch es geht nicht „nur“ um die Bedürfnisse der Kinder, sondern die aller Beteiligten, also auch die der pädagogischen Fachkräfte und der Eltern. Es handelt sich letztlich um demokratische Prozesse, innerhalb derer Bedürfnisse benannt und ausgehandelt werden. „Die Kinderbetreuung ist eine Gesellschaft in Kleinform“[1]. Bedürfnisorientierung ist folglich besonders eng mit Partizipation und entsprechenden Menschen- und Schutzrechten verbunden. Es geht z.B. darum, Bedürfnisse konsequent zu berücksichtigen und zu priorisieren. Damit einher gehen wichtige Entwicklungsschritte und Lernprozesse. Kinder lernen Bedürfnisse wahrzunehmen, anzuerkennen und kompromissbereit zu verhandeln, wenn ihnen Erwachsene dies vorleben, folglich auch die eigenen Bedürfnisse (im Team) beachten. Natürlich können Erwachsene die Bedürfnisbefriedigung aufschieben und haben Verantwortung bzw. Aufgaben in der Kinderbetreuung. Doch ihre Bedürfnisse sind gleichwertig.
Für alle demokratischen Prozesse und damit zusammenhängende Entwicklungsschritte sind stabile, von Wertschätzung getragene Beziehungen zwischen den pädagogischen Fachkräften und den Kindern notwendig. Nur wenn Kinder sich im Sinne der Bindungstheorie sicher, geborgen und in ihrer Würde respektiert erleben, sind sie bereit, sich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Grenzen zu zeigen bzw. zu beteiligen. Kinder sind außerdem im besonderen Maße bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse von Erwachsenen abhängig und „verdienen besonderen Schutz“.[2]
Doch daraus ergibt sich eine Vielzahl an Fragen zur Umsetzung in der Kita. Wie können Konflikte zwischen Kindern begleitet werden? Wie priorisiere ich Bedürfnisse im Gruppengeschehen? Wie handle ich als pädagogische Fachkraft bei Grenzüberschreitungen? Wann greife ich ein? Wie spreche ich mit den Kindern bedürfnisorientiert? Welche Alternativen Handlungsalternativen bleiben bei Regelverstößen?
Hier bietet die Gewaltfreie Kommunikation nach M. Rosenberg wertvolle Anregungen, Haltungsaspekte und konkrete Formulierungshilfen. Es handelt sich dabei jedoch nicht bloß um ein technisch abzuarbeitendes Kommunikationsmodell, sondern um eine humanistische Haltung, der die Bedürfnisorientierung zugrunde liegt. Auf der Grundlage der Grundannahmen hat Rosenberg ein Kommunikationsmodell bestehend aus 4 Schritten entwickelt. Eine Wahrnehmung (etwas gehört oder gesehen) löst in mir ein Gefühl aus, das wiederum anzeigt, ob Bedürfnisse erfüllt sind oder nicht. Um das Bedürfnis zu erfüllen, kann eine Bitte formuliert werden. Die 4 Schritte können unterschiedlich genutzt werden. Entweder als Selbstempathie, Selbstausdruck oder um mein Gegenüber empathisch zu verstehen. Dabei geht es immer darum, im Hier und Jetzt wieder respektvoll in Beziehung zu kommen oder in Kontakt zu bleiben.
Wenn z.B. ein Kind im Kindergarten die Jacke bei einer Außentemperatur von 8Grad nicht anziehen will, dann könnte die Gewaltfreie Kommunikation Anwendung finden, indem die Fachkraft
- in die Selbstempathie geht (Warum bin ich so wütend, wenn ein Kind die Jacke nicht anzieht? Brauche ich Verbindung zum Kind/ Selbstwirksamkeit/Vertrauen?)
- in den Selbstausdruck geht (Wenn ich sehe, dass du keine Jacke anziehst, bin ich besorgt, weil mir wichtig ist, dass du warm genug angezogen bist. Bist du einverstanden, dass wir die Jacke mit rausnehmen und draußen nochmal testen, ob dir noch warm ist?)
- empathisch im Gespräch mit dem Kind versucht herauszufinden, welcher guter Grund dahinter liegt (Schwitzt das Kind in der Jacke/eingeschränkter Bewegungsradius…)
Rosenberg verwendete als Symboltiere die Giraffe und den Wolf. Es existieren diverse Projekte wie z.B. Der Giraffentraum von Frank Gaschler[3], die der kindgerechten Einführung der GFK in der Kita oder Schule dienen. Ziel ist die Implementierung der Sprache im Alltag gemeinsam mit den Kindern. Schnell ist eine Giraffen-Ecke etabliert, in der über Konflikte oder Streit gesprochen und die Beobachtungen, Gefühle und Bedürfnisse der Beteiligten Gehör finden.
Die Gewaltfreie Kommunikation bietet darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte im Kita-Alltag, z.B. für Partizipation an und wird von den Kindern schnell übernommen. Voraussetzung bleibt dabei, dass es als eine Haltung verstanden wird und nicht bloß als Technik. Im Fokus steht dabei immer der wertschätzende Umgang miteinander, was sich wiederum nachhaltig auf die demokratische Haltung und die Kompetenzentwicklung der Kinder auswirkt.
Autorin: Rebecca Giersch
[1] Wedewardt, Lea; Hohmann, Kathrin (2021): Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten in Krippe, Kita und Kindertagespflege. Freiburg im Breisgau. S.9.
[2] Doll, Inga u.a. (2020): Demokratiebildung und Partizipation in der KiTa. Nifbe-Beiträge zur Professionalisierung Nr. 11. Osnabrück. S.11.
[3] https://giraffentraum.de/wp/giraffentraum/ am 6.3.2023 um 15Uhr.